Unangemessener Druck oder Misshandlung hinterlassen oft sogenannte „Problempferde“. Doch nicht immer ist schlechte Behandlung der Grund für problematisches Verhalten beim Pferd. Betrachten wir, warum auch umsichtige und fürsorgliche Pferdebesitzer vor großen Herausforderungen mit ihrem Pferd stehen können.

Ein Blick auf problematische Verhaltensweisen

Grasen, schnauben, wälzen, laufen – das Verhalten von Pferden ist vielfältig. Einige Verhaltensweisen
können im Umgang mit dem Menschen aber problematisch sein. Das kann beim Beißen, Buckeln, Steigen oder Losstürmen beispielsweise der Fall sein. Auch wenn diese Verhaltensweisen zu erheblichen Schäden führen können, werden sie – der Sichtweise des Pferdes entsprechend – als schadenvermeidente Reaktionen bezeichnet.

Darüber hinaus stellen echte Verhaltensstörungen wie Koppen, Weben oder Fortbewegungsstereotypien eine eigene Kategorie dar.

In diesem Artikel werden wir uns mit den problematischen Verhaltensweisen im Umgang mit dem Menschen beschäftigen. Viele Pferde leiden unter den negativen Emotionen, die solches Verhalten auslösen oder begleiten. Und doch stecken sie in ihren Verhaltensmustern fest, mit denen sie nicht selten sich und ihre Besitzer in Gefahr bringen.

Wie aber kommt es zum Verhalten von sogenannten „Problempferden“?

Das andere Ende des Führstricks?

„Das einzige Problem das Pferde haben, befindet sich am anderen Ende des Führseils.“ So, oder so ähnlich reagieren Pferdefreunde häufig, wenn der Begriff „Problempferd“ fällt. Denn Pferde haben sich den Umgang mit dem Menschen nicht ausgesucht und sind ihrem Gegenüber somit leider ausgeliefert. Behandelt der Mensch das Tier schlecht oder passen die Haltungsbedingungen nicht, ist das psychische Gleichgewicht des Pferdes beeinträchtigt und Verhaltensauffälligkeiten sind vorprogrammiert.

Als ich anfing mich näher mit sogenannten „Problempferden“ zu beschäftigen, erwartete ich vor allem Pferde, die schlecht behandelt oder falsch gehalten wurden. Doch stattdessen kamen viele Pferde aus guter Haltung mit fürsorglichen und umsichtigen Besitzern zu mir. Ich begann zu verstehen, dass die Pferd-Mensch-Beziehung auch bei großen Bemühungen von Seiten des Menschen manchmal zur Herausforderung werden kann.

Wie sich Verhaltensweisen entwickeln

Pferde sind von Natur aus unterschiedlich. Jedes Pferd bringt andere angeborene Neigungen mit. Es gibt heißblütige Pferde, gemütliche Pferde, jene die übermäßige Angst zeigen, tendenziell dominante Pferde usw. Entsprechende Tendenzen sind oft schon bei Fohlen erkennbar.

Wie sich die Youngsters weiter entwickeln, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Dazu zählen unter anderem die Haltung, die Sozialkontakte, die Erlebnisse und die Menschen im Leben eines Pferdes. Um sein Verhalten verstehen zu können, müssen wir die angeborenen Tendenzen eines Pferdes im Licht von allen Einflussfaktoren betrachten.

Lenas Geschichte

Lena ist ein wunderbares Beispiel für ein Pferd mit problematischen Verhaltensweisen, das aus guten Händen kommt. Die kleine Appaloosa-Stute wurde in Frankreich geboren und durfte ihre ersten Monate in guter Haltung an der Seite ihrer Mutter und anderer Stuten mit Fohlen verbringen. Im Vergleich zu den anderen Fohlen zeigte sich Lena besonders sensibel. Neuem gegenüber war sie skeptisch und reagierte unter Umständen sehr heftig, wenn sie Angst bekam. Die Tierärztin musste sich für Lena immer besonders viel Zeit nehmen.

Glücklicherweise fand Lena bald ihren Herzensmenschen Sybille und zog nach einem stressarmen Absetzen nach Deutschland um. Dort durfte sie im Herdenverband aufwachsen. Im Umgang mit dem Menschen zeigte sich Lena hier sehr liebevoll, aber reagierte auch immer wieder explosionsartig auf kleine Umweltreize.

Sybille zeigte Lena daher bald „die Welt“ und ging viel mit ihr spazieren. Das klappte schnell sehr gut. Lena war achtsam und vorsichtig im Umgang mit dem Menschen. Beim Menschen zu sein schien ihr die Sicherheit zu geben, die ihr fehlte. Auch mit anderen Pferden schien sie sich wohl zu fühlen. Allein sein konnte sie hingegen gar nicht. Das ist für Pferde von Natur aus nicht vorgesehen und somit oft nicht einfach. Lena reagierte aber überdurchschnittlich heftig auf jede Form von kurzzeitiger Separation.

Als Lena zwei Jahre alt wurde, stellte sich heraus, dass ihre Separationsängste auf den Umgang mit dem Menschen übergeschwappt waren. Das bedeutete, dass bereits zwei bis drei Meter Abstand zum Menschen für Lena Separation bedeuteten. Forderte man Lena auf, Abstand zu halten, geriet sie in Panik. Auch versuchte sie durch Steigen die Nähe einzufordern. Ihr Verhalten wirkte dabei in keiner Weise respektlos, sondern „nur“ panisch. Da Longieren Abstand erfordert, mündeten Longierversuche in hysterischen Anfällen.

Die Ausprägung des Verhaltens war enorm. Lena konnte bei Abstand zum Menschen nicht zur Ruhe kommen.

Gründe für Lenas Verhalten

Lässt man Lenas Geschichte Revue passieren, kann man die Kombination von Lenas natürlichen Tendenzen und der Nähe zum Menschen schnell als Auslöser für Lenas bizarre Reaktion auf das Abstandhalten identifizieren.

Die natürliche Tendenz allein hätte dem Menschen gegenüber wahrscheinlich keine Separationsängste verursacht, da Lena anfangs eher skeptisch auf Zweibeiner reagierte. Die Nähe zum Menschen als solche hätte wiederum ebenfalls nicht zu den Separationsängsten geführt, sonst hätten viele Pferde dieses Problem. Vieles spricht also für die Kombination der beiden Faktoren.

Der Fall von Lena zeigt, dass Verhaltensausbildung komplex ist. Ein Beschuldigen der Pferde oder der Besitzer ist in Problemfällen meist nicht angemessen.

Vielfältige Herausforderungen

In den letzten Jahren konnte ich mit sehr unterschiedlichen Pferd-Menschen-Paaren an individuellen Lösungen für problematische Verhaltensmuster arbeiten. Jeder Fall war für mich einzigartig. Die Hintergründe dafür, wie sich die jeweiligen Verhaltensweisen entwickelt hatten, waren immer andere.

Cody buckelte, wenn er einen Bauchgurt spürte, weil er als Jungpferd mit einem Bauchgurt in Panik geraten war. Die gesunde Josy wurde beim Reiten bitterböse, weil sie einmal einen Tumor hatte. Jupiter war aggressiv, weil er gelernt hatte, dass es für ihn die beste Option war. Jedes dieser Pferde kam „aus guten Händen“.

Ja, leider gibt es auf dieser Welt viele arme, misshandelte Pferde, die keine andere Chance haben als „Problempferde“ zu sein. Indem sie beißen, treten oder den Menschen niederrennen, wirken sie schadensmindernd für sich selbst.

Darüber hinaus gibt es aber auch scheinbar harmlose Einflussfaktoren, die das Gleichgewicht zwischen Mensch und Pferd erheblich beeinflussen können. In manchen Fällen kann es dann zur Entwicklung von problematischen Verhaltensweisen kommen, obwohl die Besitzer ihr Bestes gegeben haben.

Warum die Anführungszeichen?

Ein Pferd als „Problempferd“ zu bezeichnen, kann manchmal Teil des Problems sein. Denn die Bezeichnung wird schnell Programm. Nicht selten stempeln wir das Tier damit als Problem ab. Wie wir über unser Pferd denken, kann Auswirkungen auf sein Verhalten haben. Hintergrund-Infos dazu gibt’s in meinem Blog-Artikel zum Pygmalion-Effekt.

Ich habe die Bezeichnung „Problempferd“ in diesem Artikel verwendet, weil sie trotzdem sehr verbreitet ist und die meisten Pferdeleute wissen, was damit gemeint ist. Die Anführungszeichen mögen ausdrücken, dass ich das Pferd nicht als Problem sehe.

Wie es mit Lena weiter ging

Bevor der Artikel zu Ende geht, möchte ich noch berichten, dass Lena ihre Separationsängste in den Griff bekommen hat. Durch Zerlegung in kleine Schritte konnte Lena über einen Zeitraum von ca. sechs Wochen lernen, dass keine Gefahr besteht, wenn man Abstand zum Menschen hält. So war entspannte Bodenarbeit möglich und der Grundstein für die weitere Ausbildung zum Reitpferd gesetzt.

Beim Anreiten profitierten wir davon, dass die Nähe zum Menschen Lena Sicherheit gab. So konnte sie aufkommende Ängste überwinden. Trotzdem brauchte Lena besonders viel Zeit und Geduld bis sie mit dem Reiten zurechtkam.

Sybille und ich sahen Lena dabei aber nicht als „Problempferd“, sondern als besonders feinfühliges und sensibles Pferd – so fiel es uns leicht, ihr die Zeit zu schenken, die sie brauchte.

Florian Oberparleiter
März 2024

Dieser Artikel entstand in Kooperation mit ProPferd.at – Österreichs unabhängigem Pferde-Portal.

Quelle:
Deutsche Reiterliche Vereinigung e.V., Grundwissen zur Haltung, Fütterung, Gesundheit und Zucht, 20. Auflage, FNverlag, 2016, S 22