Was erwarten wir von unserem Pferd? Wie hat es sich zu verhalten, zu sein, sich anzufühlen? Wenn unsere Vorstellungen dazu sehr konkret sind, kann das problematisch sein. Spezifische Erwartungen können zu Stolpersteinen werden, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind.

Heute genauso toll wie gestern?

Es gibt diese Tage, an denen sich im Pferdetraining alles perfekt entwickelt. Völlig unerwartet sind wir plötzlich eins mit dem Pferd. Alles geht leicht von der Hand, die Trainingseinheit ist eine Freude.

Am darauffolgenden Tag möchten wir dasselbe noch einmal erleben. Wir erwarten, dass sich das gleiche tolle Gefühl einstellt. Doch seltsamerweise will und will die heutige Trainingseinheit nicht so gut verlaufen. Egal wie sehr wir uns anstrengen, Leichtigkeit bleibt unerreichbar. Das tolle Gefühl von gestern ist dahin.

Unterschiede in der Erwartungshaltung

Eine häufige Ursache für solche Phänomene ist unsere unterschiedliche Erwartungshaltung an verschiedenen Tagen. Im obigen Beispiel sind wir am ersten Tag ohne Erwartungen zum Pferd gekommen und haben die Situation und das Tier so angenommen, wie sie gewesen sind. Wir haben uns auf alles eingelassen, uns vom Gefühl für das Pferd tragen lassen und dann dankend angenommen, was uns das Pferd geschenkt hat.

Am zweiten Tag haben unsere Erwartungen mentale und körperliche Spannungen aufgebaut. Während wir nach dem Gefühl vom Vortag Ausschau halten, entgeht uns, was das Pferd heute anbietet und wie es sich heute anfühlt. Mit dem Versuch das Gefühl vom Vortag zu reproduzieren, verschließen wir uns der Realität und versäumen anzunehmen, was tatsächlich da ist.

Positiv ist nicht gleich positiv

Eine allgemeine positive Grundhaltung gegenüber unserem Pferd zu haben, kann sehr hilfreich sein. Die damit verbundene Erwartungshaltung erlaubt uns den Fokus auf die Qualitäten des Pferdes zu legen und diese zu fördern. Mehr dazu in meinem Blog-Artikel zum Pygmalion-Effekt.

Positive Erwartungen können aber dann problematisch sein, wenn sie spezifisch sind. Das ist dann der Fall, wenn wir erwarten, wie unser Pferd oder die Beziehung zu ihm genau zu sein hat. Unsere Vorstellungen wie sich das Pferd verhalten, bewegen oder anfühlen soll, können zum Hemmschuh werden.

Die Kunst besteht also darin, eine positive aber zugleich offene Erwartungshaltung zu pflegen. Denn nur wenn wir das Pferd annehmen wie es ist und seine aktuelle Situation erfassen, können wir die richtigen Hilfen – wohl dosiert und gut getimt – geben.

Erwartungen bei hohem Ausbildungsniveau

Selbstverständlich kann mit zunehmendem Ausbildungsniveau vom Pferd mehr erwartet werden. Es würde etwas falsch laufen, wenn man von einem sorgsam ausgebildeten Pferd nicht mehr als von einem rohen Pferd erwarten könnte.

Interessanterweise verschwindet das „Erwartungs-Problem“ aber nicht mit steigendem Ausbildungsniveau von Mensch und Pferd. Es findet nur auf einem anderen Level statt. Von dem Pferd, das heute toll piaffiert, wird dies auch morgen erwartet. Morgen liefert es auch eine Piaffe – es ist ja kein Anfänger – aber vielleicht halten es unsere Erwartungshaltungen davon ab, die Qualität vom Vortag zu liefern.

Neues Pferd, neues Gefühl

Auf das „Erwartungs-Problem“ treffe ich auch häufig bei Menschen, die ein geliebtes Pferd verloren haben und sich schließlich für ein neues Tier entscheiden. Sie sind oft auf der Suche nach demselben wunderbaren Gefühl, das sie mit ihrem Vorgänger-Pferd hatten.

Man muss sich aber vergegenwärtigen: Ein neues Pferd wird nie GENAUSO gut sein, wie ein geliebter Vorgänger, aber es kann mit Sicherheit ANDERS gut sein – auf seine Weise! Dazu muss man sich aber auf das Pferd einlassen und aufhören zu vergleichen. Das ist jedoch oft ein großer Schritt für den wir Menschen manchmal über den eigenen Schatten springen müssen.

„Unglaublich, was mir bisher entgangen ist!“

Karin, eine passionierte Wanderreiterin aus der Steiermark, führte mir einmal die Kraft der Erwartungshaltung besonders gut vor Augen. Als ich sie kennenlernte, hatte sie ihr jahrelanges Verlasspferd Lucky verloren und nahm mit ihrem neuen Pferd Charley bei einem meiner Kurse teil.

Lucky war Karins Traumpferd gewesen. Mit ihm hatte sie jeden unwegsamen Pfad gemeistert, Kreuzungen überquert und war tapfer an großen Fahrzeugen vorbei geritten. Die Latte lag somit hoch für das Nachfolger-Pferd Charley. Als tendenziell eher unruhiges und nervöses Pferd erfüllte er Karins Erwartungen mehr schlecht als recht.

Charley ständig mit Lucky zu vergleichen, hielt Karin davon ab, Charleys wunderbare, aber ganz andere Eigenschaften zu erkennen. In der gemeinsamen Arbeit richteten wir daher den Fokus darauf, Charley wahrzunehmen wie er war. Dabei nutzten wir eine einfache Übung, bei der man beim Reiten alles kommentiert, was das Pferd gerade gut macht, auch wenn man es für eine unbedeutende Kleinigkeit hält. Am Anfang fällt einem dabei vielleicht nicht viel auf, was man positive kommentieren könnte. Doch je mehr man sich auf die Situation einlässt, umso mehr Positives bemerkt man. Und ehe man es sich versieht, hat man seine Erwartungen hinter sich gelassen und ist ganz beim Pferd im Hier und Jetzt.

Als Karin von ihrem Pferd abstieg strahlte sie mich an und meinte: „Heute habe ich zum ersten Mal Charley geritten. Bisher bin ich in mein Kopf immer noch auf Lucky gesessen und hab mich nie auf Charley eingelassen! Unglaublich, was mir bisher entgangen ist!“

In den Moment kommen

Unsere Erwartungen können sich manchmal zwischen uns und den Moment stellen. Doch genau dort, im Moment, im Hier und Jetzt sollten wir sein, wenn wir bei Pferden sind. Dort sind Pferde zuhause – dort schenken sie uns alles was sie haben.

Florian Oberparleiter
Mai 2023

Dieser Artikel entstand in Kooperation mit ProPferd.at – Österreichs unabhängigem Pferde-Portal.