Wie wir unser Gegenüber sehen, so behandeln wir es auch – bewusst oder unbewusst. Das kann direkten Einfluss auf die Entwicklung und das Verhalten unseres Gegenübers haben. Diesen sogenannten Pygmalion-Effekt gilt es auch im Umgang mit Pferden zu beachten. Denn was wir über unser Pferd denken, könnte Wirklichkeit werden!

Vom „sturen Gaul“ zum sensiblen und intelligenten Pferd

Die meisten Pferd-Mensch-Beziehungen sind emotional. Dazu gehören sowohl positive als auch negative Emotionen. Bei der, beim Reiten im wahrsten Sinne des Wortes, engen Zusammenarbeit von Mensch und Pferd, neigen wir Menschen dazu, unserem Pferd bestimmte Attribute zuzuschreiben. Diese sind nicht immer positiv.

In den Augen der Menschen gibt es da nicht nur „brave“, sondern auch „sture“, „dumme“, oder gar „A…loch-“ Pferde. Diese Zuschreibungen können sehr problematisch sein.

Einerseits halten wir unbewusst ständig Ausschau nach Verhaltensweisen, die unsere Zuschreibung untermauern und sehen über gegenteilige Indizien hinweg. In der Psychologie nennt man das den Bestätigungsfehler.

Andererseits beeinflusst unsere Bewertung des Pferdes die Behandlung des Tieres. Behandeln wir unser Pferd als „sturen Gaul“, wird es ein solcher bleiben (oder eher werden!). Behandeln wir es als sensibles und intelligentes Lebewesen, wird es uns als solches begegnen. Ob positive oder negative Zuschreibungen, das Pferd wird sich ihnen anpassen!

Wissenschaftlicher Hintergrund

Dieser Effekt ist in der Psychologie als Rosenthal oder Pygmalion-Effekt bekannt. Er geht auf eine bahnbrechende Studie in den 1960er Jahren zurück. Dabei wurde Lehrkräften mitgeteilt, dass einige Kinder in ihren Klassen besonderes Potenzial in ihrer intellektuellen Entwicklung hätten. Diese Kinder waren jedoch nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden. Doch siehe da, acht Monate später wiesen diese Kinder ein signifikant höheren IQ auf.

Die Forscher, die diese Studie durchgeführt hatten, Robert Rosenthal und Lenore Jacobson, zogen aus diesem Ergebnis den Schluss, dass die Lehrer diese Schüler durch ihre positive Erwartung unbewusst anders behandelt hatten und so ihre Entwicklung besonders positiv verlaufen konnte.

Dieses Prinzip wurde im Vorfeld schon mit Ratten getestet und es folgten viele Nachfolge-Studien. Immer korrelierte die Erwartungshaltung der Lehrenden mit der Leistung der Schülerinnen und Schüler.

Mein erster Kontakt mit dem Pygmalion-Effekt im Pferdetraining

Zu Beginn meiner Trainertätigkeit wurde mir in meinen Horsemanship-Kursen die Relevanz des Pygmalion-Effekts im Umgang mit Pferden zum ersten Mal bewusst. In den Vorstellungsrunden zu Beginn der Kurse beschrieben die BesitzerInnen ihr Pferd häufig als „blöd“, „stur“ oder „böse“, untermauert von diversen Anekdoten.

Ich ließ mich von diesen scheinbaren Fakten beeinflussen und erwartete vierbeinige Gegner. Überraschenderweise traf ich später aber immer „nur“ auf Pferde. Auf liebe, nette Pferde sogar, die nur noch nicht ganz verstanden worden waren.

Behandelte ich dann die Pferde so wie ich sie empfand, merkte ich in vielen Fällen nichts von den beschrieben negativen Tendenzen. Ließ ich die Worte aus der Vorstellungsrunde jedoch nachhallen, ertappte ich mich dabei, genau diese Tendenz in den Tieren hervorzurufen.

So wurde ich erstmals für unser Thema sensibilisiert, ohne es benennen zu können. Bis heute erlebe ich regelmäßig, wie das Verhalten von Pferden sich mit der Einstellung ihrer Besitzer verändern kann.

Leichter gesagt als getan

In der Praxis ist es nicht immer einfach, nur das Gute in seinem Pferd zu sehen. Je unerwünschter sein Verhalten wird, umso schwerer fällt uns das in der Regel. Das erlebe ich beispielsweise oft bei aggressivem Benehmen.

Hat ein Pferd einmal gelernt zu beißen, zu buckeln oder gar den Menschen zu attackieren, neigen viele Menschen dazu, es für „böse“ zu halten. Warum das Pferd sich so verhält, wird dabei leicht aus dem Auge verloren. Stattdessen behandeln wir das „böse“ Pferd natürlich auch als solches. In der Regel trägt aber genau solch eine Behandlung dazu bei, dass das Pferd „böse“ ist.

Der böse Normen

Vor nicht allzu langer Zeit durfte ich mit Normen arbeiten. Der große Warmblüter zeigte sich alles andere als kooperativ zeigte. Er hatte gelernt, den Menschen anzusteigen, wenn ihm etwas gegen den Strich ging oder sich seines Reiters durch Steigen zu entledigen. Ging man hinter ihm vorbei, lief man Gefahr einen Tritt abzufangen.

In seinem Stall galt Normen als „A…loch“. Wurde mit ihm gearbeitet, versuchte man durch entsprechenden Druck, eine Eskalation zu verhindern. Dies hatte den Anschein zu funktionieren, denn wenn der Druck stark genug war, beugt sich ihm Normen. Allerdings geschah dies mit großem Widerwillen und hatte zur Folge, dass Normens Toleranzgrenze für jegliche Einwirkung auf ihn immer niedriger wurde. Mit der Zeit reichte es aus, dass der Mensch die Richtung anzeigte, damit Normen ausrastetet.

Von außen betrachtet, fällt es in einem Fall wie diesem leichter, die Schuld nicht beim Pferd zu suchen, als wenn man einem großen Kerl wie Normen gegenübersteht. Schuldzuweisungen sind daher nicht angebracht.

Als Normen in meine Obhut kam, begann ich sukzessive daran zu arbeiten, ihm den Grund für seine Reaktion (zu viel Druck) zu nehmen. Dass ich ihn als sensibles, missverstandenes Pferd mit weichem Herzen sah, half mir die Mittel und Wege zu finden, die er brauchte um auf die richtige Bahn zu kommen.

Richtig verstanden

Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass durch eine positive oder gar naive Sichtweise Probleme einfach verschwinden. Dies zu glauben, könnte sehr gefährlich werden. Selbstverständlich ist ein achtsamer Umgang mit unerwünschten Verhaltensweisen des Pferdes geboten. Es geht vielmehr darum, auch die positiven Seiten des Pferdes zu sehen und diese vielleicht sogar in den Vordergrund zu rücken.

Dazu gehört das Potential des Pferdes zu erkennen, aber auch nicht zu überschätzen. Jedes Pferd hat natürliche Grenzen. Sich nicht von der Vergabe negativer Attribute hemmen zu lassen, aber auch nicht die natürlichen Grenzen des Pferdes zu übergehen, ist die Kunst bei der Sache.

Halte ich meinen leicht erregbaren Vollblüter für hysterisch, wird er wohl auch so sein und bleiben. Behandle ich ihn im Gegenteil gleich wie ein nervenstarkes Pferd, das weder Großvieh noch Mähdrescher fürchtet, kann es auch schnell mal gefährlich werden. Die Lösung liegt in der Mitte: Sehe ich ihn als ein hochsensibles Pferd mit wunderbaren Fähigkeiten, gelingt es mir am ehesten, mich an sein wahres Potential heranzutasten.

Die positiven Seiten des Pferdes zu sehen, schenkt uns die Geduld, ihm die Zeit zu geben, die es braucht und die Bereitschaft, unser Training auf das Pferd abzustimmen.

Ein positiver Nebeneffekt

Es ist ein tolles Gefühl, ein liebes, feines, sensibles oder gemütliches Pferd zu reiten. Meistens macht es mit bösen, sturen, unsensiblen oder faulen Gäulen nicht so viel Spaß. Dabei sind das alles nur Zuschreibungen, mit denen wir unsere Pferde versehen.

Das Pferd negativ abzustempeln, nimmt uns die Freude am Umgang mit ihm. Das Gute im Pferd zu sehen, tut auch uns Menschen gut.

Florian Oberparleiter
März 2023

Dieser Artikel entstand in Kooperation mit ProPferd.at – Österreichs unabhängigem Pferde-Portal.

Quellenangabe:
Rosenthal, Robert; Jacobson, Lenore (1966). Teachers’ Expectancies Determinants of Pupils’ IQ Gains, in: Psychological Reports, 19, S. 115-118
Rosenthal, Robert; Fode, Kermit L. (1963), The Effect of Experimenter Bias on the Performance of the Albino Rat, in: Behavioral Science 8, S. 183-189